Die Kinder aus der Seegasse

Bestimmte Geschichten drängen sich offenbar danach, erzählt zu werden. Der Leiter des Alsergrunder Bezirksmuseums hätte mir von Erich Fried berichten können. Ihm wurde in seinem Haus eine eigene Abteilung gewidmet, weil er vor seiner Vertreibung im neunten Wiener Gemeindebezirk wohnte. Herr Dr. Urban hätte mir von dem früheren Altersheim in der Seegasse erzählen können. Es gehörte der Israelitischen Kultusgemeinde , dient jetzt als städtisches Pensionistenheim. Im Hinterhof wurde ein Friedhof rekonstruiert, der seit alter Zeit bestand und von den Nazis zerstört worden war. Die steinernen Sinnbilder segnend zum Himmel weisender Priesterhände, Menorah, Davidsschild und Levitenkanne haben zu ihrem angestammten Platz gefunden. Selbst der sagenhafte marmorne Fisch erinnert wieder an das Wundertier, welches den Donaufischer einst mit bewegenden Worten angesprochen haben soll.

Als jüdische Menschen die öffentlichen Parks und Gartenanlagen in der Zeit nach dem deutschen Einmarsch in Österreich nicht mehr besuchen durften, war dieser Friedhof eine kleine Zufluchtstätte. Als uniformierte SA-Männer und Parteigenossen in Zivil jüdische Greise und Kinder wie Hunde von den Grünflächen vertrieben, konnten sie auf den Gottesacker flüchten. Von einem Häuserblock gegen neugierige Blicke geschützt, konnten sie im Schatten hoher alter Bäume ihre Freizeit auf der Wiese zwischen den Grabstätten verbringen. Schräg gegenüber befand sich das stattliche Haus der Schwedischen Mission. Hier, erzählte mir Herr Dr. Urban, habe ein mutiger Pfarrer ohne Rücksicht auf Glaubensfragen dreitausend jüdische Schutzsuchende getauft, um sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu retten.

Der stattliche Bau steht noch immer unverändert. Die großflächigen Stuckaturen der Fassade aus der Jahrhundertwendezeit sind erhalten. Ein kraftstrotzender Gockel ruft zur Arbeit. Üppige Blumengirlanden winden sich. Sittsame Mädchengestalten beugen sich über ihre Aufgaben. Im Hausflur und im Treppenhaus scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Das Licht fällt durch geschliffene, facettierte Fenster. Die Ornamente entsprechen einem modernisierten, versachlichten Jugendstil. Einige Räume wurden den gegenwärtigen Erfordernissen einer protestantischen Kirchengemeinde angepaßt. Noch immer findet an diesem Ort ein reges Gemeindeleben, eine engagierte Jugendarbeit statt. Nur spärlich ist man über die Geschichte dieses Hauses informiert. Zwar sind viele der einst Geflüchteten zurück nach Wien gekommen. Aber die meisten haben noch immer Bedenken, sich als Verfolgte zu erkennen zu geben.

Folglich begann ein Archivar, sich der Geschichte anzunehmen. Für Herrn Dr. Jérabek im Österreichischen Staatsarchiv sind "die Schweden" ein Begriff. Er fördert aus denverschiedensten Beständen immer wieder Neues zu Tage. In den Akten der Bundespolizeidirektion, der Vereinspolizei, des Stillhaltekommissars, des Bundeskanzleramtes, des Archives der Republik, dem Allgemeinen Verwaltungsarchiv, findet er neue Spuren. Er gab den Hinweis, daß einschlägige Dokumente der Gestapo sich heute im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn befinden.

Viele der alten "Seegassler" pflegen persönliche Beziehungen untereinander, telefonieren, stehen in brieflichem Kontakt. Einige Freundschaften haben die Zeiten seit den Dreissiger Jahren überdauert. Ihre Gefühle gegenüber den neugierigen Fragen der folgenden Generationen sind gemischt. Es können schmerzliche Erinnerungen wach werden, weil viele Nahestehende aus der Schwedenmission deportiert wurden und für immer in den Vernichtungslagern verschwanden. Die damaligen Ängste vor der Verfolgung wirken bis heute. Sie werden verstärkt durch antisemitische und rassistische Regungen, die sich genauso im Alltag, wie im aktuellen politischen Geschehen zeigen. Andererseits werden zeitgeschichtliche Dokumente sorgfältig verwahrt. Der "Judenstern" mit den Druckknöpfen, die es ermöglichten, das diskriminerende Abzeichen, verbotenerweise jederzeit vom Tweedkostüm abzunehmen, steckt noch immer in der Missionsausgabe des Neuen Testamentes.

Die Seegasse hat ihren Namen von einem Seitenarm der Donau, der schon vor langer Zeit verlandet ist. Hier ist einer der ältesten israelitischen Friedhöfe Wiens. Die Seegasse liegt im Alsergrund. In diesem Stadtbezirk Wiens, der Wohnraum für die angesehene und begüterte Mittelklasse bietet, bilden Juden einen dicht gruppierten, in sich geschlossene, separaten Teil der Bevölkerung. Der Anteil der Ärzte, Anwälte, Autoren und anderer Freiberufler ist überproportional hoch. In der Nähe der Universität und der Leopoldstadt, dem Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Wien, versammelt sich eine "aufstrebende jüdische Bourgeoisie ". In der benachbarten bürgerlichen Josefstadt lassen sich selten Juden nieder.

Der Pfarrer Göte Hedenquist amtiert in der Seegasse 16. Er ist Präsident und Missionsleiter in Wien. Pastoren und Schwestern wohnen in den oberen Stockwerken der Seegasse. Greta Andrén, Diakonissin, ist der "Schwarm" vieler weiblicher Täuflinge, hat einen starken Einfluß auf die Jugendgruppen. Das Haus gegenüber dem Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde gehörte früher einem jüdischen Wohltätigkeitsverein. Die Räume sind vielfach mit jüdischen Emblemen geschmückt. In den Vortragssälen ist das Bild des bekannten Zionistenführers Dr. Theodor Herzl, sowie eine Karte von Palästina angebracht.

Die "Schwedische Gesellschaft für Israel" ist der Schwedischen Mission Stockholm, 6, Idungatan 4 angeschlossen. Sie hat sich im Juni 1922 in Wien als Verein konstituiert. Die Missionsstation Wien bezweckt "die Hebung und Vertiefung des religiösen Lebens auf christlicher Grundlage, sowie innere und äußere Mission". Sie veranstaltet Vorträge, und Versammlungen, vertreibt Druckschriften. Sie bewirtet Kinder, beschenkt sie mit Wäschestücken, unterhält ein Kindererholungsheim in Weidling, Hauptstraße 156. Man bemüht sich "daß die Juden ein Verständnis für das Christentum bekommen." Man sucht "die wechselseitige Verständigung". Öffentliche Veranstaltungen und Vorträge finden statt. Man führt Dialoge, veranstaltet Gottesdienste, Bibelkreise und betreibt soziale Arbeit.

Am 2.12.1922 abends findet im Betsaal in der Seegasse wieder ein Missionsvortrag statt. Weil sich Gegner eingefunden haben, kommt es zu "Lärmszenen". Die Polizei wird gerufen. Nach einer Stunde wird die Veranstaltung abgebrochen. Die Teilnehmer entfernen sich. Auf der Straße wird ein junger Juweliergehilfe beschuldigt, mit einem Schlagring bewaffnet zu sein. Er wird ohne daß eine Waffe gefunden wird, "perlustriert". Am folgenden Tag versammeln sich hundert Menschen vor dem Haus. Einem herbeigeeilten Polizeibeamten wird erklärt, daß in dem Gebäude "Judenmädchen zurückgehalten würden, um sie zwangsweise zu taufen." Die empörte Menge macht Anstalten, in die Missionsstation einzudringen. Die Sicherheitswache drängt die Demonstranten ab. Der Bezirksleiter des Polizeikommissariates Alsergrund begibt sich mit einem Vertreter der aufgebrachten Zuschauer das Innere. Er will erfahren haben, daß hier 23 jüdische Kinder eingesperrt seien, "um sie dem mosaischen Glauben abwendig zu machen." Der Leiter der der Zweigmission der schwedischen Gesellschaft für Israel, Emil Weinhausen, ist mit einer Hausdurchsuchung einverstanden. Es wird nichts Verdächtiges gefunden. Die mißtrauischen Demonstranten vermuten aber, man habe "die Judenmädchen bereits in ein der Mission gehöriges Haus nach Hadersfeld gebracht, damit sie die Wiener Behörde nicht finde." Ein "Freies Aktionskomitee der Judenschaft Wiens" gibt ein Plakat heraus. Der Mission wird vorgeworfen, "jüdische Kinder zu verführen und irrezuleiten." Das sofortige Verbot der Gesellschaft wird gefordert.

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