Goldstern und Wien

Eugenie Goldstern entschließt sich, ihrer Begeisterung für die Bauern zu folgen und Volkskunde zu studieren. In den Matrikeln der Jahre von 1902 bis 1919 des Universitätsarchivs in Wien ist sie nicht verzeichnet. Sie ist wegen ihrer " verhängnisvollen russischen Matura " lediglich als außerordentliche, oder Gasthörerin zum Philosophiestudium zugelassen. Im Wintersemester 1911/12 sind an der Philosophischen Fakultät knapp ein Fünftel der Studierenden weiblichen Geschlechts. In der Frühzeit des Frauenstudiums sind russische Studentinnen unter den Ausländerinnen an der Universität Wien zahlenmäßig am stärksten vertreten. Unter ihnen gibt es eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Jüdinnen. Die Entscheidung für eine selbständige wissenschaftliche Laufbahn steht in großem Widerspruch zur überkommenen Rolle der Frau, die sich als Stütze ihre Ehemannes, als Hausfrau und Mutter zu bewähren hat. Sie stellt eine deutliche Auflehnung gegen die väterliche Herrschaft weltlicher und geistlicher Oberhäupter dar. Einer aus Odessa stammenden Jüdin stehen noch größere Vorurteile gegenüber. Russische Studentinnen werden allgemein des Hanges zu Anarchie und Revolution, zu Sozialismus und Nihilismus verdächtigt. Daraus erklärt sich wohl die frühzeitige Orientierung nach den schweizerischen Universitäten, an denen ein liberaleres Klima herrscht und eine Promotion für Frauen möglich ist.

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Eugenie Goldstern findet ein prägendes Vorbild in der Person des Leiters des k.k. Reichsmuseums für österreichische Volkskunde. Er hält seine gut besuchten Vorlesungen in der Börse am Schottenring. In diesem Prunkpalast werden die einfachen Werke der Volkskunst dem höchst entwickelten gründerzeitlichen Repräsentationsstreben gegenübergestellt. Während in einem eleganten Saal Preise und Kurse für Handelsgüter festgesetzt werden, ist im zweiten Stockwerk die Kultur derer dokumentiert, die diese Werte erwirtschaften. Man gelangt in die Sammlung nicht durch das prunkvolle Entrée mit seinem genienbestandenem, quadrigenbekröntem Portikus. Durch den Seiteneingang an der Wipplingerstraße betritt man ein überreich geschmücktes Vestibül. Ein imposantes Treppenhaus mit marmornen Balustern und vergoldeten Kandelabern führt in eine dämmerige slowakische Stube mit buntbemalten Möbeln aus Groß-Blatnitz in Mähren. Eine vollständig eingerichtete oberösterreichische Küche mit offenem Herd samt Rauchmantel spiegelt sich in kaltglänzendem Kunstmarmor antikisierender Wandgliederungen. Dicht bestückte Pultkästen mit Ostereiern und bemalten Totenschädeln, übervolle Schauvitrinen mit Kropfketten, Bauchranzen- und Schuhschnallen stehen an der Rückwand unter der Galerie. Aus der Schlafstube eines Kupferschmiedes in Kärnten schweift der Blick über endlose Flure im Stil der italienischen Renaissance.

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Michael Haberlandt ist der Direktor dieses sehenswerten, den Liebhaber strenger Systematik " nicht ganz befriedigenden Museums ". Er liest als erster und einziger Privatdozent an der Wiener Universität " Ethnographie ". Er versteht es, lebendig und packend sein Wissen über " die beiden Geschlechter innerhalb der einzelnen Nationen ", eine Graburne von den Liu - Kiu - Inseln, die " Cultur der Eingeborenen der Malediven ", über " Sociologie " oder Vielmännerei vorzutragen. Er liebt es, Kenntnisse aus den entlegensten Winkeln der Welt zu sammeln und zu vergleichen. Er stellt " Frauenwaffen " von den Gilbertsinseln den " Damendolchen " Japans und den Messern der Eskimofrauen gegenüber. Er betreibt vergleichende Religionswissenschaft. Er kennt die japanische und buddhistische Literatur , ist promoviert in der indogermanischen Sprachwissenschaft. Er hat die " Abenteuer der zehn Prinzen " aus dem Sanskrit übersetzt. Er schreibt gewandte, geistvolle Aufsätze über die verschiedensten Gegenstände des Kulturlebens. Er versucht in einer Überschau, geistige und kulturelle Eigenarten verschiedener Völkergruppen miteinander in Beziehung zu setzen.

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Er bemerkt, daß auch bei fremden Stämmen " die meisten Volksäußerungen in sehr verwandter, oft überraschend gleicher Art " wiederkehren. Er stellt eine "Gleichartigkeit der menschlichen Natur- und Geistesanlagen" fest, die unter ähnlichen Bedingungen zu vergleichbaren Ergebnissen führt. Er findet zahlreiche überraschende Verbindungen von höchsten zivilisatorischen Errungenschaften zu Bräuchen des " primitiven Zöglings der Natur. " Er führt aus, daß die Strafgesetzgebung seiner Zeit im " barbarischen Rachedurst " wurzelt. Obwohl er selbst Träger des Ritterkreuzes des Franz Joseph - Ordens ist, sieht er, daß die aristokratische Gliederung seiner Gesellschaft der Ordnung brahmanischer Kasten entspricht. Er beobachtet, wie politische Vorgänge allenthalben durch " Männerverbände " gesteuert und bestimmt werden. Er widerspricht der Auffassung, die Männer seien die ausschließlichen Träger der Weltgeschichte. Er hebt den " fast gänzlich vergessenen Kulturanteil der Frau " hervor.

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Er setzt sich mit der Kultur des Alltags auseinander. Er sinnt nach über die psychologische Wirkung der " Reclame ", die Wahrnehmung beim Radfahren, oder den Großstadtlärm. Er hält das typische, einfache Spielzeug für einen wichtigen Forschungsgegenstand. Er vermutet, das Kind sei " ein kleiner Urmensch ", dessen Leben und Geist " prähistorisch " seien. Die Welt des Kinderspieles sei ein " rückständiges Element ", in dem sich die wahre Unschuld einer unverdorbenen, bescheidenen und anspruchslosen Kinderseele offenbare. Er begeistert sich für Naturen, die " nicht ergriffen von der Aufregung der Modernität " sind. Er behandelt die primitive Kunst auf der Suche nach der " volksthümlichen, urwüchsigen Grundlage ", dem " eigentlichen Volk ". Er untersucht die Ergologie des Primitiven. Er stößt auf Zusammenhänge zwischen dem " Wirtschaftsbetrieb " und der " Lebensführung ". Er stellt einen " Kommunismus " im gemeinschaftlichen Vorgehen bei Jagd, Fischfang oder Bodenbearbeitung fest. Er weist auf die " Restvölker " hin, bei denen sich uralte Lebens- und Arbeitsformen erhalten haben. Er lenkt die Aufmerksamkeit seiner Studenten auf " Randvölker ", die sich als äußerste Vorposten menschlicher Kultur gegen eine übermächtige, unwirtliche natürliche Umgebung behaupten. Er weckt damit das Interesse von Eugenie Goldstern an " oft altertümlich verbliebene Sprachgemeinschaften innerhalb oder am Rande der neueren Nationalstaaten " , die in ihren Rückzugsgebieten Alternativen zu den modernen Erscheinungen der Entwurzelung und Entfremdung sein könnten.

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Im Jahre 1911 wird ein erstes Geschenk von Eugenie Goldstern im Inventarbuch des Volkskundemuseums vermerkt. Eine tönerne Kinderpfeife, rot und golden bemalt, wird in den Bestand aufgenommen. Eugenie Goldstern wird im folgenden Jahr Mitglied im Verein für österreichische Volkskunde und abonniert dessen Zeitschrift. Der Staat kommt nur für ein Viertel des Vereinsetats auf. Der Großteil der Verwaltungsausgaben und Ankaufskosten wird aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden " großmütiger, begüterter Freunde " bestritten. Das Bankhaus S.M. von Rothschild tritt als Mäzen in Erscheinung. Offensichtlich soll eine völkerversöhnende, einigende Tendenz auf dem volkskünstlerischem Gebiet gefördert werden. Die Volkskunst gilt als neutraler Boden, auf dem eine internationale Verständigung über Grenzen hinweg möglich sei. Ihre österreichische Ausprägung gilt als vorbildlich, weil innerhalb der Grenzen der Monarchie " die stärksten Rassenverschiedenheiten Europas zu einer staatlichen Einheit versammelt " seien. Volkskundliche Erscheinungen könnten nicht ausschließlich als nationale Eigenart betrachtet werden. In Abhängigkeit von Material, Technik und Zweck bestehe eine enge innere Verwandtschaft gewisser gestalterischer Leistungen in den verschiedensten und entferntesten Ländern. In gewissen Motiven zeigten sich gemeinsame uralte Überlieferungen, " die vom Weltverkehr über die ganze bewohnte Schichte des Erdballes getragen wurden. "

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Die wissenschaftlichen Arbeiten von Eugenie Goldstern stehen in dieser Tradition. Bis jetzt war das Österreichische Museum für Volkskunde in Wien nicht bereit, ihre dort deponierte Sammlung auszustellen.

 

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Abbildungen aus : Peasant Art in Austria and Hungary, The Studio, Special Number, London Autumn 1911

mit einem Aufsatz von Prof. Dr. Michael Haberlandt, Direktor des Museums für Volkskunde

 

Leather Belt Worked in Pared Peacock-Quills

Oberösterreich, Abb. 56

Man's Leather Belt Ornamented with Brass and Iron Studs

Tirol und Vorarlberg, Abb. 201

Man's Leather Belt Ornamented with Pewter Wire

Tirol und Vorarlberg, Abb. 202

 

Cow and Goat Bell-Collars

Tirol und Vorarlberg, Abb. 135, 138, 140

 

Carved Wall-Cupboard

Tirol und Vorarlberg, Abb. 99

Primitive Woodcarving

Salzburg, Abb 78

Honey-Cake Mould

Tirol und Vorarlberg, Abb. 108

 

Walachian House in Komitat Hunyad

Ungarn, Transsylvanien (Abb. 688)

"Peasant's House in Mostar"

Herzegovina, Abb. 564

Peasant's House near Turnau (1816)

Böhmen, Abb. 253

 

Moravian Peasant's Bridal Dress

Abb. 360

The Village Rake-Maker, Cernutky

Böhmen, Abb. 299

Peasant's Dress, from Horitz

Böhmen, Abb. 300